Und plötzlich bin ich wieder der kleine Junge in der Eisdiele

Ich wohne in Moers, direkt am Schloss und damit auch am Weihnachtsmarkt. Das ist praktisch, wenn man mal eben etwas essen oder einen Glühwein trinken möchte – weniger praktisch, wenn man einen Dackel hat, der lieber schnüffelnd Essensreste sucht, als brav Gassi zu gehen.

Besonders abends am Wochenende, wenn der Weihnachtsmarkt gut besucht ist, wird es schwierig. Man versucht, mit dem Hund einen großen Bogen um das Getümmel zu machen, aber Dackel wären keine Dackel, wenn sie sich nicht stur durchsetzen könnten. So auch gestern.

Vor unserem Haus traf ich eine Nachbarin mit ihrer französischen Bulldogge Amy. Die beiden Hunde wollten spielen, aber die Nachbarin winkte schnell ab: Sie war müde und wollte auf die Couch. Sie kam gerade aus Mönchengladbach, wo sie sich im Stadion das Spiel Gladbach gegen Dortmund angesehen hatte, stilecht im Fanschal, den sie noch trug. Nach ein paar Minuten trennten wir uns wieder, und ich wollte mit Lilou, unserer Dackeldame, noch eine kurze Runde drehen.

Lilou hatte andere Pläne. Nach etwas Gezerre lief sie zwar Richtung Haustür, zog dann aber zielstrebig zum Schloss. „Na gut“, dachte ich, „eine Runde ums Schloss.“ Doch ihr wahres Ziel war natürlich der Weihnachtsmarkt.

Vorm Schloss blieb sie sitzen. Und während ich noch versuchte, sie davon zu überzeugen, weiterzugehen, kam eine Gruppe angetrunkener Menschen auf uns zu. Begeistert lockten sie Lilou zu sich. Um zu vermeiden, dass jemand über sie stolpert, holte ich sie zu mir und ließ sie „Sitz“ machen. In diesem Moment trat ein Mann aus der Gruppe hervor und drückte mir wortlos einen Geldschein in die Hand. Verdutzt bedankte ich mich. Es waren 10 Euro.

Plötzlich war ich wieder dieser fünfjährige Junge in der Eisdiele. Damals war ich mit meinem Vater unterwegs, als eine ältere Dame zu mir kam, sich zu mir hinunterbeugte und mir ein Fünfmarkstück in die Hand drückte. Ich war verwirrt – wofür gab sie mir Geld? Ich hatte doch nichts dafür getan. Mein Vater reagierte pragmatisch: „Sag Danke und steck das Geld ein.“ Erst später erklärte er mir, dass die Frau Mitleid mit mir gehabt habe, weil ich im Rollstuhl saß. „Sie fühlt sich dadurch besser, und du hast fünf Mark“, meinte er.

Das war das erste Mal, dass ich begriff: Andere Menschen könnten mein Leben für bemitleidenswert halten, auch wenn es das für mich nicht ist. Ich habe aber auch gelernt, pragmatisch damit umzugehen.

Gestern auf dem Weihnachtsmarkt fiel mir diese Lektion wieder ein. Also nahm ich den Zehner an – doch es fühlte sich anders an als damals. Heute bin ich erwachsen und nicht auf fremdes Geld angewiesen. Einen Moment lang überlegte ich, dem Mann hinterherzulaufen und ihm den Schein zurückzugeben. Doch dann hatte ich eine andere Idee: Ich werde das Geld spenden. Vielleicht lege ich sogar noch etwas drauf. Dann hat dieser seltsame Moment wenigstens noch einen guten Zweck erfüllt.

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